Beziehungswaise

Wenn aus „beziehungsweise“ „Beziehungswaise“ wird, dann kommt darin etwas Wesentliches über unser Menschsein zum Ausdruck. Denn wir alle sind auf Beziehungen angewiesen. Wir sind darauf angewiesen, dass es von Geburt an Menschen gibt, die es gut mit uns meinen, die sich um uns kümmern und für uns sorgen, Menschen, zu denen wir eine Beziehung aufbauen können. In der Regel werden das Vater und Mutter sein. Manchmal bricht die Beziehung zwischen Eltern und Kind durch den plötzlichen Tod ab. Wir sprechen dann von Waisen und meinen damit, dass diese Kinder von etwas getrennt worden sind, das gut für sie gewesen wäre. Durch den Tod der Eltern kam es zu einem Abbruch an Beziehung. Ein solches Kind ist gewissermaßen zu einem Beziehungswaisen geworden.

Was es bedeutet, von einem Menschen getrennt zu werden, der mir wichtig ist, kann ich in der aktuellen Situation gut nachvollziehen. Durch das Corona-Virus werde ich zur Distanz zu diesen Menschen aufgefordert. Seit dieser Woche muss ich sogar einen Mund-Nasenschutz tragen, wenn ich beim Einkaufen anderen Menschen gegenübertrete. Ein Treffen mit Freunden gibt es gerade nur am Telefon oder im virtuellen Raum. Meine Geschwister und meine Eltern konnte ich auch schon seit geraumer Zeit nicht mehr besuchen. Jetzt habe ich den Vorteil, dass ich nicht allein lebe. Deshalb bin ich nicht vollständig zum Beziehungswaisen geworden. Durch meine Frau und meinen Sohn habe ich menschliche Nähe, die mir guttut und mir immer wieder Kraft gibt. Manchmal frage ich mich aber, wie es gerade Menschen ergehen muss, die allein leben, die vielleicht kaum Kontakt zu anderen Personen über Telefon oder Internet haben und dadurch sozial isoliert und einsam sind.

Ich stelle mir das ganz schön herausfordernd vor. Denn ich habe gerne Kontakt mit anderen Menschen. Ich bin ein soziales Wesen, weil Gott mich so geschaffen hat. Er selbst ist in gewisser Weise ein soziales Wesen, denn er will mit uns Menschen in Beziehung treten. Im Johannesevangelium spricht Jesus diesen Wunsch in einem seiner berühmten Ich-bin-Worte aus. Im 15. Kapitel kann ich lesen: „Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner.“ Wenig später ergänzt Jesus noch: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“

„Ich bin der wahre Weinstock!“, sagt Jesus. Gott ist der gute Weingärtner, der sich um seinen Weinstock kümmert. Der Weingärtner sorgt dafür, dass der Weinstock gut gepflegt ist und deshalb gute Frucht hervorbringen kann. Die Rebe ist mit dem Weinstock verbunden und zieht ihre Kraft aus ihm. Aus dieser Verbundenheit heraus geschieht etwas ganz Natürliches: Es wachsen Trauben an ihm.

Was heißt das für mich, wenn ich aus dem Bild des Weinstocks heraustrete? Für mich heißt das, dass ich in ein göttliches Beziehungsgeschehen hineingenommen bin. Ich muss keine Beziehungswaise sein. Jesus lädt mich ein, in einer Beziehung mit ihm zu bleiben! In diesem Bild liegt etwas zutiefst Befreiendes. Denn als Rebe muss ich mir beim Weinstock Jesus meine Stellung nicht erarbeiten oder verdienen. Ich bin geliebt so wie ich bin und ich werde von Jesus genauso angenommen. Wenn ich an Jesus Christus bleibe, dann wird das ganz natürlich Auswirkungen auf mein Leben haben. Im Bild gesprochen: Dann werde ich Frucht bringen. Und auch das geschieht, ohne dass ich mich sonderlich bemühen oder anstrengen muss, weil ich mit Jesus, der Kraftquelle für mein Leben, verbunden bin.

Allerdings reduziert sich für mich dieses In-Jesus-Bleiben nicht auf den Sonntagsgottesdienst. Nein, ich denke, dass es gerade mit dem Bild des Weinstocks im Hintergrund um eine dauerhafte Verbindung mit Jesus geht, die in meinem Alltag ganz unterschiedlich zum Ausdruck kommen kann: durch ein Bibelwort, das ich gelesen habe, durch ein Gebet oder durch einen Gedanken, mit dem ich mich mit Jesus oder Gott verbunden weiß.

Manchmal kommt diese Verbundenheit mit Jesus auch ganz handfest zum Ausdruck, gerade in Zeiten von Corona. Ich denke da an eine ältere Frau. Ihr Mann ist vor einiger Zeit gestorben. Ihre Kinder und Enkelkinder wohnen weiter entfernt und können aufgrund der Kontaktbeschränkung nicht zu Besuch kommen. Gerade über die Osterfeiertage ist das sicherlich eine belastende Situation. Umso schöner ist, dass es Menschen gibt, die diese Frau nicht aus den Augen verloren haben, sondern ihr anbieten, für sie einkaufen zu gehen und ihr an Ostern eine kleine Freude machen. Die Botschaft dahinter ist deutlich: Sie sind nicht allein. Sie sind keine Beziehungswaise auch wenn sich das in-Beziehung-bleiben in diesen Tagen für Sie schwerer gestaltet.

In dieser Begebenheit kommt etwas von dem zum Ausdruck, was Paulus im Galaterbrief als „Früchte des Geistes“ bezeichnet: „Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit […]“. Wenn Jesus davon spricht, dass aus der Verbindung mit Ihm Frucht hervorgehen wird, dann hat er nicht großartige Leistungen im Kopf, sondern eine Prägung unseres Wesens, die dem Herzen Gottes entspricht.

Auch in Zeiten von Corona müssen wir keine Beziehungswaisen sein. Jesus lädt uns ein, mit ihm in Beziehung zu treten und zu bleiben. Aus dieser Beziehung können wir Kraft schöpfen, gerade in diesen Tagen. Aus dieser Beziehung heraus kann Gott unser Herz anrühren, dass wir nicht nur auf uns selbst schauen, sondern auch auf die Menschen um uns herum. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich am Weinstock Jesus festmachen, an ihm bleiben und aus seiner Kraft leben.

Ihr Pfarrer Johannes Körner