Das Johannesevangelium – Der Author und seine Adressaten
In der vergangenen Woche haben wir uns dem Johannesevangelium aus der Vogelperspektive angenähert und dabei festgestellt, dass es sich im Gegenüber zu Matthäus, Markus und Lukas um ein besonderes Evangelium handelt. Hinter einem besonderen Inhalt steht – meine ich jedenfalls – auch ein besonderer Autor. Der Frage nach dem Autor und der Entstehungszeit des Evangeliums will ich mich in diesem Beitrag widmen. Es wird also darum gehen: Wer hat wann, von wo aus und an wen geschrieben. Diese Fragen werden bei jeder neutestamentlichen Schrift gesondert abgehandelt.
Fragt man nach dem Autor, so stößt man beim Lesen der Evangelien in unseren deutschen Übersetzungen am Anfang auf eine Überschrift, die einen Namen nennt. In unserem Fall ist dort zu lesen: „Johannesevangelium“ oder „Evangelium nach Johannes“. Alle vier Evangelien sind mit dem gleichen Überschriftensystem versehen. Die Überschriften erwecken den Eindruck, als ob ein Johannes, ein Markus, ein Matthäus oder ein Lukas den dazugehörigen Text geschrieben haben. Allerdings stammen diese Überschriften nicht von den Autoren selbst, sondern sind erst nachträglich als Überschriften über diese Texte geschrieben worden (etwa in der Mitte des 2. Jh. n. Chr.). Das dürfte mehrere Gründe gehabt haben. Der Bezeichnung „Evangelium“ ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von Schriften, die ähnlich aufgebaut waren und Leben und Wirken Jesu in den Blick genommen haben. Bis so ein Sammelbegriff allgemein anerkannt wurde, dürfte es einige Zeit gedauert haben.
Außerdem erleichtern Überschriften die Bezugnahme. Stellen Sie sich einmal vor, die Evangelien des neuen Testaments hätten keine Überschriften. Die Verständigung über einen konkreten biblischen Text wäre ziemlich schwierig und würde vielleicht so ablaufen: „Meinst du das Evangelium, in dem die große Endzeitrede Jesu steht?“ „Nein, ich Rede von dem Evangelium, in dem Jesus vom verlorenen Schaf spricht…“ Sie sehen: Namen erleichtern die Identifikation, zumal die im Neuen Testament überlieferten Evangelien nicht die einzigen ihrer Art gewesen sind.
Die Überschriften sind also erst später ergänzt worden, aber warum sind sie mit diesen vier Namen verbunden worden? Beantwortet werden will diese Frage allein schon deshalb, weil alle vier Evangelien sich hinsichtlich ihres Autors ausschweigen. Sätze wie „Dies ist das Evangelium von Jesus Christus, das Johannes, ein Jünger Jesu und Augenzeuge der berichteten Geschehnisse, niedergeschrieben hat“ sucht man vergebens. Immerhin legt der Autor des Lukasevangeliums in seinem „Vorwort“ Rechenschaft über seine Motive und die verwendeten Quellen ab. Als einziges Evangelium nennt er auch den Empfänger seines Werkes, einen Mann namens Theophilus. Die übrigen Evangelien machen zu Autor und Intention überhaupt keine Angaben.
Wenn also die Evangelien selbst keine Angaben zu ihren Autoren machen, warum hat man sie dann überhaupt mit einem bestimmten Namen in Verbindung gebracht? Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich folgendes vor Augen führen: In der frühen Zeit der christlichen Bewegung gab es jenseits der neutestamentlichen Texte eine Vielzahl von Schriften, die in den Gemeinden gelesen wurden. Nach und nach stellte sich die Frage, welche Schriften für den christlichen Glauben verbindlich sein sollten und welche nicht. Ein Kriterium, das bei der Auswahl der als verbindlich angesehenen Schriften helfen sollte, war das der Ursprungsnähe. Das bedeutet:
Besonders hoch im Kurst standen die Schriften, die von einem Augenzeugen verfasst worden waren. Direkt danach folgten diejenigen Schriften, die auf den Begleiter eines solchen Augenzeugen zurückgeführt werden konnten. Wendet man dieses Kriterium auf die Evangelien an, dann suggerieren die Namen, dass zwei Evangelien (Matthäus und Johannes) von Augenzeugen geschrieben wurden. Bei Markus soll es sich laut der kirchlichen Tradition um einen Begleiter und Dolmetscher des Petrus gehandelt haben, der sein Evangelium auf Grundlage von dessen Predigten angefertigt hat. Der Verfasser des Lukasevangeliums könnte Paulus auf dessen Missionsreisen begleitet haben. Die Apostelgeschichte nennt immerhin einen Lukas, der Arzt gewesen ist.
Durch diese Rückbindung der Evangelien an Jünger oder an Personen aus deren Umfeld, wollte die Alte Kirche sicherstellen, dass deren Zeugnis als zuverlässig angesehen wird. Anonyme Evangelium sind vor diesem Hintergrund problematisch und werfen vielleicht die Frage auf, ob ihr Inhalt vertrauenswürdig ist.
Aber streng genommen handelt es sich beim Johannesevangelium um ein anonymes Evangelium. Denn der Autor nennt im gesamten Textzusammenhang nicht ein einziges Mal seinen Namen. Dennoch finden sich einige vage Angaben zum Verfasser. Der Text nennt an verschiedenen Stellen einen „Jünger, den Jesus lieb hatte“. Johannes 21,24 stellt schließlich eine Verbindung zwischen diesem Jünger und dem Autor des Evangeliums her. In der vorherigen Erzählung ist der „Jünger, den Jesus lieb hatte“ genannt. Darauf Bezug nehmend fasst V. 24 zusammen: „Dies ist der Jünger, der das bezeugt und aufgeschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist.“ Der Autor des Johannesevangeliums ist demnach der „Jünger, den Jesus lieb hatte“.
Davon ausgehend entstand in der Alten Kirche die Tradition, dass es sich bei diesem Jünger um Johannes, den Sohn des Zebedäus handeln muss. Allerdings wird im gesamten Evangelium ein Jünger namens Johannes nicht ein einziges Mal erwähnt. Deshalb lässt sich die Frage nach dem Autor wohl nicht endgültig klären. In der neutestamentlichen Forschung geht man eher davon aus, dass das Evangelium wegen seiner sehr eigenständigen Theologie nicht von einem Augenzeugen stammt, sondern auf einen „Theologen der späten Zeit“ (Udo Schnelle) zurückzuführen ist.
Ebenso unklar ist die genaue Abfassungszeit des Evangeliums. Die Spannweite reicht von 70 n. Chr. bis hin zu 150 n. Chr. Einen Hinweis könnte ein Papyrusschnipsel liefern. Papyrus war das Papier der Antike. Die neutestamentlichen Texte wurden stetig neu abgeschrieben, damit sie in den Gemeinden verbreitet werden konnten. Im trockenen Klima des Vorderen Orients – vor allem in Ägypten – sind diese Papyri sehr lange erhalten geblieben. Ein kleiner Teil eines solchen Papyrus wurde 1920 entdeckt. Darauf waren wenige Verse von Johannes 18 zu lesen. Datiert wird dieser Fund auf ca. 125 n.Chr. Damit ist klar, dass das Johannesevangelium zu diesem Zeitpunkt bereits existiert haben muss. Deshalb hält man heute eine Entstehung entweder um 90 n.Chr. oder um 110 n.Chr. für wahrscheinlich.
Aber an welche Gruppe oder Gemeinde hat sich das Johannesevangelium gerichtet? Bei der Frage nach den Adressaten einer neutestamentlichen Schrift steht man grundsätzlich vor zwei Alternativen: Entweder ist sie an Personen gerichtet, die aus einem heidnischen (also nicht jüdischen) Umfeld stammen, man spricht dann von „Heidenchristen“. Oder die Schrift richtet sich an Personen mit einem jüdischen Hintergrund, den sog. Judenchristen. Hinsichtlich der Frage, an wen sich das Johannesevangelium gerichtet hat, werden beide Möglichkeiten diskutiert. Ich halte es für wahrscheinlich, dass sich das Evangelium überwiegend an Menschen mit jüdischem Hintergrund gerichtet hat. Denn im Evangelium finden sich viele Bezüge auf die hebräische Bibel – also auf unser Altes Testament. Diese würde jemand ohne jüdischen Hintergrund nicht so ohne weiteres verstehen. Hier ein paar Beispiele. In Joh 6,31 wird das Mana genannt. Mana war die Nahrung, mit der Gott sein Volk Israel versorg hat, als dieses nach dem Auszug aus Ägypten in der Wüste umherwanderte. Im Johannesevangelium verweist Jesus besonders häufig auf Mose. Um diese Bezüge richtig einordnen zu können, muss man wissen, dass Mose eine herausragende Bedeutung für den jüdischen Glauben hatte. Schließlich werden alttestamentliche Texte zitiert, und zwar ohne genaue Stellenangabe. Eine mehr als rudimentäre Kenntnis dieser Schriften wird auf Seiten der Leser vorausgesetzt. Wegen diesen Beobachtungen gehe ich davon aus, dass die Empfänger (-gemeinde) überwiegend aus Judenchristen bestanden hat.
Mit diesen Überlegungen beschließen wir unsere Annäherung an das Johannesevangelium. In der kommenden Woche starten wir mit unserem Bibelleseplan und steigen mit dem Prolog (Joh 1,1–18) in den Text dieses Evangeliums ein.
Lieber Herr Pfarrer Johannes (!) Koerner,
Der Evangelist Johannes als Autor von Fake News?!
Erst einmal vielen Dank fuer Ihren hochinteressanten 2. Beitrag. Mit Ihnen stimme ich voellig ueberein, dass die gedachte Urleserschaft dieses Evangeliums in erster Linie die Judenchristen waren.
Allerdings bin ich auch der festen Ueberzeugung, dass der Verfasser in der Tat der Johannes, der „Juneger den Jesus liebt hat,“ war. Stimmte das nicht, und es war nur irgenein nachoesterlicher „Theologe,“ wie Herr Schnelle behauptet, wuerde das Joh 21,24 zum Urquell einer ganz gewaltigen Fake News machen. Denn darin steht, „Dies ist der Juenger, der von diesen Dingen zeugt und dies geschrieben hat“. Es waere schon eine unglaubliche Anmassung dieses „Theologen“ gewesen, fuer sich die Person von Johannes zu reklamieren, nur damit sein Text groessere Akzeptanz findet. Das kann und will ich nicht glauben. Der Evangelist Johannes war kein spaeterer Hochstapler.
Selbst Eusebius, dessen Kirchengeschichte (ca. 325 AD) sehr viele der damals noch zum Kanon gehoerenden Texte des Corpus des Neuen Testamentes zumindest als „umstritten“ wenn nicht gar „heraetisch“ deklarierte – umstritten bei Eusebius darunter ironischer Weise die „Offenbarung des Johannes,“ hat nie am Evangelium des Juengers Johannes gezweifelt. Er hat es in seine Liste der akzeptierten Buecher der Bibel aufgenommen. Haette er an der Urheberschaft des Juengers gezweifelt, waere seine Entscheidung bestimmt eine andere gewesen.
Was das relativ spaete Verfassungsdatum des Johannesevangeliums angeht, hat Johannes ja selber in Joh 21.22-23 Jesus andeuten lassen, dass sein lieblingsjuenger noch sehr lange leben koennte und sagt Petrus: „Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich [wieder] komme, was geht es Dich an?“
Ganz solange hat Johannes nicht gelebt. Aber wenn man von seiner Geburt um 5 AD ausgeht, kann er noch um 90 AD im hohen Alter – und auch in der Antike gab es manche Menschen, die sehr lange lebten – sein Lebenswerk veroeffentlicht haben.
In diesem Sinne Gottes Segen auch fuer die kommende Woche. Auf die Fortfuehrung des Projekts bin ich weiterhin sehr gespannt.
Ihr
Reinhart Lutz
Danke für Ihren Kommentar. Ihre persönliche Überzeugung möchte ich mit meinem Beitrag gar nicht in Frage stellen. Mir war wichtig, aufzuzeigen, dass keiner der Evangelisten (bewusst?) seinen Namen nennt. Das gilt auch für das Johannesevangelium. Der Name „Johannes“ wird darin im Übrigen ausschließlich für Johannes den Täufer verwandt. Einen Jünger mit diesem Namen kennt es nicht. Bei den Namen, die die Überschriften nennen, handelt es sich um sekundäre Zuschreibungen.
Schwierig finde ich allerdings, wenn Sie in diesem Zusammenhang von „Fake News“ sprechen. Der Inhalt eines Evangeliums wird selbst dann nicht weniger wert, wenn es nicht von einem Augenzeugen verfasst worden sein sollte. Für mich ist das Gegenteil zutreffend. Die Evangelien wollen Autorität beanspruchen aufgrund ihres Inhalts und nicht aufgrund ihres Verfassers, sonst hätte diese sich sicherlich zu erkennen gegeben, ganz im Stil eines Paulus, der bei den Gemeinden aufgrund seines Apostelamtes Gehör eingefordert hat.
Lieber Herr Pfarrer Körner,
Mit dem zugegebenermassen radikalen Begriff fake news beziehe ich mich nicht auf den Inhalt des Evangeliums an sich, sondern auf die zum Abschluss gegebene Versicherung, der Verfasser sei ein Jünger gewesen. Wenn das stimmt – wovon ich überzeugt bin – kommt wegen des späten Verfassungsdatum nur Johannes in Frage. Sein Bruder Jakobus erlitt schon 44 AD das Martyrium aber von einem Martyrium des Jüngers Johannes ist nichts überliefert. Er kommt also als Autor sehr wohl historisch in Frage.
Sie haben Recht dass die 4 kanonischen Evangelien erst später „offiziell“ gewissen Autoren zugeschrieben wurden, sehr gut auch aus den von Ihnen eingangs zum Blogeintrag hier geschilderten Gründen. Allerdings traue ich da denen, die das taten, sehr wohl zu dass sie aus der – auch mündlichen – christlichen Überlieferung sehr wohl wussten, was sie taten, und wer die wahren Autoren waren, die sie dann benannten.
Gerade in der angelsächsischen Theologie geht man oft im Fall des Johannes von Bescheidenheit aus, die ihn bewegte, seinen Namen nur zu umschreiben. Es könnte im Zeitalter der Christenverfolgungen auch eine Schutzmassnahme gewesen sein, um sich nicht namentlich gegenüber den Verfolgern zu exponieren. In rebolutionären Bewegungen suchen sich ja auch manche Anführer neue Namen aus, auch bei den Bösen wie Stalin.
Wenn, wie Schnelle behauptet, der Autor nur ein nachösterlicher „Theologe“ war, muss seine Redaktion der Worte Gottes und Jesus und Jesu Taten und Leiden natürlich nicht selber fake news sein. Aber mit Joh 21.24 wäre dieser Autor, was ihn selber angeht, ein Betrüger. Und alle Christenmenschen die von Johannes dem Jünger Jesu als dem Evangelisten als Autor überzeugt waren/sind, wären bezüglich der Autorenschaft auf einen Betrüger und Hochstapler hereingefallen – unabhängig davon wie wahr der Inhalt sein kann.
Daran glaube ich nicht.
Gottes Segen,
Ihr
Reinhart Lutz
Lieber Johannes,
herzlichen Dank für diese ersten beiden sehr interessanten Blickwinkel auf das Evangelium Deines Namenpatrons.
Wirklich sehr anschauliches Hintergrundwissen, dass mir teilweise so noch gar nicht bewussst war.
Freue mich sehr auf alle weiteren neue Einblicke in dieses ganze eigene Evangelium.
Gerade in der Fastenzeit sind mir diese wertvollen Gedankenimpulse ein willkommener Wegbegleiter.
Von Herzen Dank für all die Zeit und und spürbare Freude am Detail, die diese wunderbar verständlich geschriebenen Beiträge für mich zu etwas ganz Besonderen machen.
Finde insgesamt alle geistlichen Impulse aus dem Block sehr bereichernd und freue mich jedes Mal, wenn ich hier etwas Neues entdecke.
Möge Gott unser Vater uns weiterhin alle segnen, behüten und gesund erhalten.
Bis zum nächsten Mal
Liebe Grüße an alle
Claudia Kluge