Der Epilog

Jetzt sind wir doch tatsächlich (schon) beim letzten, beim allerletzten! Kapitel des Johannes-Evangeliums angekommen. Kling verrückt – ist aber so – also:
Herzlichen Glückwunsch an uns fleißige Leserinnen und Leser!

Bevor das Johannes-Projekt aber ganz und gar endgültig zu Ende geht (Schnüf!), nützen wir doch die Chance und schauen uns dieses letzte Kapitel, Kapitel 21, noch einmal ein bisschen genauer an. Tut man das (das „Genauer-Angucken“), dann stellt man sehr schnell etwas fest:

Zwischen Joh. Kap. 20 (v.a. die Verse 19-23) und Joh. Kap. 21 gibt es eine Spannung, man könnte sogar sagen, einen Widerspruch:
In Kap. 20 werden alle! Jünger zu Mission ausgesandt und entsprechend sind sie auch alle durch den heiligen Geist erleuchtet und in die Lage versetzt wirkmächtig Sünden zu vergeben.
In Kap. 21 dagegen wird dieses Amt (Sie wissen schon, dass das nur fünf Zeiten weiter oben allen zugedacht war) Petrus allein vorbehalten.
Den übrigen Jüngern wird keinerlei missionarischer Eifer bescheinigt. Stattdessen wird beschrieben, dass sie einfach nach Galiläa zurückgekehrt sind, um ihren alten Beruf als Fischer wieder aufzunehmen. … exegetisch schon mal verdächtig, oder?

… Aber es geht noch weiter:
In Kap. 20 ist die letzte Geschichte, bevor Kap. 21 beginnt, die Geschichte vom Jünger Thomas, der sich schwer tut (an die Auferstehung) zu glauben, ohne den auferstandenen Jesus selbst gesehen und berührt zu haben.
Damit aber befindet sich Thomas in der Situation, in der sich (von damals bis heute) alle befinden, die das Johannes-Evangelium lesen: Wir alle sollen (müssen und können aber auch) glauben, ohne Jesus von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben – „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“, so heißt es in Joh. 20, 29.
Und mal ehrlich: Das wäre ein ziemlich guter Evangeliums-Abschluss-Gedanke! Zumal die darauf folgenden Verse Joh. 20, 30-31 ganz deutlich (Lesen Sie gerne nach!) als Schlusswort verstanden werden wollen.

Wenn das aber stimmt, dann heißt das … Na? Kommen Sie drauf? … Genau!
Es heißt: Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei Joh. Kap. 21 um eine sekundäre Hinzufügung, konkret: Kap. 21 wurde erst ergänzt, als das Evangelium schon (mehr oder weniger) fertig vorgelegen war.

Und wissen Sie, was? Die Verfasser von Kap. 21 geben das ganz offen zu.
Woran man das merkt? – Sie respektieren das Schlusswort in Kap. 20, 30-31:
Sie streichen es nicht und verschieben es auch nicht an das Ende von Kap. 21, was beides (wenn es geschickt gemachte ist) den Eindruck erwecken könnte, Kap. 21 sei originaler Bestandteil des Evangeliums. … 

… Könnte man schon so machen, aber die Verfasser von Kap. 21 wollen das offensichtlich nicht. Stattdessen scheinen sie das Evangelium (Joh. 1-20) als abgeschlossenen Text zu betrachten … und zwar nicht nur als irgendeinen Text, sondern als Text, der für sie gültig ist.

Ihre Zustimmung zum Evangelium drücken sie z.B. auch dadurch aus, dass sie „ihr“ Kapitel 21 so aufbauen, wie es für Johannes-Evangelium typisch ist, heißt konkret:
In Kap. 21,1–14 wird ein Zeichen (= Mahl des Auferstandenen mit Jüngern) beschrieben, woran sich dann (Kap. 21,15–23) ein erklärender Dialog anschließt.

Außerdem greifen die Verfasser des 21. Kapitels die Methode des Rückverweises auf, die man ja wirklich viel im Evangelium findet. Neben einer Hochachtung für das Evangelium, drückt das auch aus, dass Kap. 21 in ständigem Bezug zum vorausgehenden Text zu lesen ist.

Damit aber handelt es sich bei Kap. 21 im Johannes-Evangelium um ein Nachwort; einen sog. Epilog. Und zwar um einen waschechten (= alle Gattungsmerkmale erfüllenden) Epilog, der eine Situation beschreibt, die eine Folge des vorausgehenden Textes ist.
Zur Sicherheit noch einmal:
Die Situationen, die in Kap. 21 beschrieben werden, folgen aus den Vorgängen, die wir im Evangelium finden … und Achtung!– durch diese Folgen (im Epilog) werden die Vorgänge im Evangelium noch einmal (von hinten her) neu bewertet. …
„Wie bitte? Das können Sie sich irgendwie immer noch nicht so richtig vorstellen?“ … Das hab ich befürchtet – es ist ja auch wirklich nicht so gut beschrieben, bisher.
Also deshalb hier und jetzt meine (vielleicht vollkommen unangemessene) Erklärungshilfe: Es ist ein bisschen, wie wenn man (unerwartet) schwanger wird.
Klingt komisch, ist aber so: Wird man (oder Frau) als Folge, als Epilog gewisser Schlafzimmer-bezogener Aktivitäten schwanger, dann werden diese Aktivitäten – vom Epilog, vom Ergebnis her – noch einmal neu bewertet. Frei nach dem Motto: Aus Spaß wurde Ernst und Ernst läuft jetzt seit einem Jahr! … So oder so ähnlich geht das mit allen Epilogen … auch mit dem im Johannes-Evangelium.

Die Frage, die bleibt, ist: Welche Neubewertung nimmt Kap. 21 genau vor?
Nun … Atmen Sie noch einmal durch, das wird ein bisschen länger … Also:
Im Evangelium selbst (Joh. 1-20) geht es immer um Jesus Christus selbst; darum, dass er sich als der Leben-bringende Logos offenbart. (Sie erinnern sich: Zeichen, Ich-bin-Worte und so weiter …).
In Kap. 21 ändert sich die Thematik: Jesus offenbart sich nicht mehr selbst.
Stattdessen erklärt er, welche Bedeutung die beiden Schlüsselfiguren, Petrus und der Lieblingsjünger, in der nachösterlichen Zeit, sprich: in der Kirche, haben (sollen).

Den Anfang macht Jesus mit Petrus (Joh. 21,15-19):
Dreimal fragt Jesus, ob Petrus ihn liebe, ja sogar, ob er ihn mehr liebe als alle anderen Jünger.
Durch die dreimalige Frage und die dreimalige positive Antwort, gibt Jesus Petrus die Chance, sich reinzuwaschen von der vorausgehenden dreimaligen Verleugnung.
Doch damit noch nicht genug, denn ab jetzt gilt:
Der Lieblingsjünger ist zwar derjenige, den Jesus liebt, doch die vollkommenste Liebe für Jesus hat Petrus (der ja, nach Jesu Frage und eigener Aussage, Jesus mehr liebt als alle anderen).
Theologisch wichtig an dieser Passage ist, dass die besondere Christus-Liebe des Petrus, keine Eigenleistung des Petrus ist. Vielmehr geht sie allein auf die Initiative Jesu zurück:
Jesus vergibt Petrus seine Verleugnung und räumt ihm die Möglichkeit ein, sich zu rehabilitieren, um dann – wieder durch Jesus – als (Universal-) Hirte eingesetzt zu werden, also die Funktion einzunehmen, die bisher Jesus selbst innehatte (Sie wissen schon: „Ich bin der gute Hirte).
Damit aber bekommt Petrus (im Epilog) dasselbe Privileg wie der Lieblingsjünger, der unter dem Kreuz (also im Evangelium selbst), als Zeuge der Offenbarung, d.h. als Stellvertreter Christi eingesetzt worden war (Joh. 19, 26-27). Bei Petrus allerdings – das sei am Rande noch bemerkt – verbindet sich die Einsetzung zum Stellvertreter und Universalhirten mit der Einsetzung zum heldenhaften Märtyrer. Darauf wird in Joh. 21,18 angespielt und V. 19 bestätigt diese Anspielung.

Ab Joh. 21,20 beginnt dann der zweite Teil des Gespräches zwischen Jesus und Petrus und jetzt geht es ganz ausdrücklich um den Lieblingsjünger: „Herr, was wird aber mit diesem?“ fragt Petrus und das zeigt bereits etwas. Es zeigt: Jetzt ist Petrus der Vertraute Jesu, eine Rolle die in der Passionszeit (im Evangelium selbst) dem Lieblingsjünger zukam.
D.h.: Die Bedeutung des Petrus wird hier noch einmal hervorgehoben.

Allerdings – und das ist wichtig – geschieht dieser Aufstieg des Petrus nicht auf Kosten des Lieblingsjüngers, denn:
Als Petrus sich umwendet, sieht er, dass sich der Lieblingsjünger in der Nachfolge (Jesu) befindet (Joh. 21, 20), was auf den Punkt gebracht bedeutet:
Die Nachfolge, in die Petrus erst noch einmal gerufen werden muss (Joh. 21, 19), wird vom Lieblingsjünger (längst) umgesetzt.
Damit aber noch nicht genug!
Die Sonderstellung des Lieblingsjüngers wird im Epilog noch weiter untermauert:
So macht Jesus sein Schicksal zu seinem letzten Thema (Joh. 21, 21-22) und schließlich wird der Lieblingsjünger zum Verfasser des Johannes-Evangeliums (stilisiert). (Joh. 21, 24)

Nimmt man nun all diese Beobachtungen zusammen, kann man sagen:
Im Zusammenspiel zwischen Evangelium und Epilog wird ein Gleichgewicht zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger hergestellt. Beiden wird gleichermaßen eine tragende Rolle im Dienst der Kirche zugeschrieben, womit die Verfasser des Epilogs zwei Ziele verfolgen: Erstens, indem die kirchliche (Hirten)-Funktion des Petrus anerkannt wird, öffnet sich für die johanneischen Gläubigen der Weg in die universale Kirche, (die sich ja auf Petrus beruft).
Zweitens kann das Johannes-Evangelium nun als Schrift des Lieblingsjüngers, also als Schrift eines Augenzeugen mit viel Autorität der gesamten Kirche vorgelegt werden. …

… ganz schön geschickt. Und das alles mit nur einem einzigen Epilog-Kapitel!
Da kann man sagen, was man will, aber die Verfasser der Bibel, egal in welcher Generation, die hatten es drauf!

Literatur:

Das Johannesevangelium, übersetzt und erklärt von Jean Zumstein, (Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Begründet von Heinrich August Wilhelm Meyer, Herausgegeben von Dietrich-Alex Koch, Band 2: Das Johannesevangelium), Vadenhoeck und Ruprecht, 2016.