Der Wurst entlang II

Gutes in Scheiben

So, nachdem der Kollege vorletzte Woche fulminant vorgelegt hat, bin ich jetzt dran, der Wurst entlang zur Theologie zu gehen. Schluck! Was soll man da machen – außer sich auf den Weg? Kommen Sie mit? – Ja? Gut! Wie schön!
Kleine Warnung noch am Rande: Mein Orientierungssinn ist besch … eiden.
Und zu allem Überfluss hat der Kollege das Internet ja schon aufgebraucht: Die Lutherwurst ist längst gefunden! Was soll da noch bleiben?

Nun, unter Schriftstellern sagt man: Fange bei dem an, was du weißt. Was weiß ich also?
Ich weiß: Als In-Regel-Vegetarierin habe ich generell ein recht abständiges Verhältnis zu Wurst. Außer natürlich zu Grillbratwurst. Im Sommer. Auf der Terrasse.
Oder ein Schinkenbrot. Gelegentlich. Zum Frühstück.
Oder eine Mettwurst-stulle. Alle Jubeljahre. Beim Wandern! Kennen Sie das?
Da ist man schon ein ganzes Stück gelaufen. Womöglich sogar bergauf und dann endlich ist Mittag.
Zeit für eine Verschnaufpause. Man findet eine Bank möglichst unter einem Baum. Die perfekte Mischung aus Sonne und Schatten und dann zieht jemand eine Vesperbox hervor und darin:
Brote, mit (eben) Mettwurst und Gurke (wenn schon, denn schon).
Und du bekommst ein Brot.
Du beißt hinein, kaust, schluckst … und es ist einfach das Beste!
Das Beste auf der ganzen Welt. Das Beste, was du jemals gegessen hast, davon bist du überzeugt, zumindest jetzt gerade. … Ja, so einfach kann das sein, mit der Wurst! …

… oder auch nicht!
Ich erinnere mich als ich ein Kind war, da passierte mir das, was Kindern heute auch noch passiert:
Wenn ich in eine Metzgerei kam, bot mit die Fachverkäuferin (egal, welche; egal, wann; egal, wo) eine Scheibe Gelbwurst an.
Das Problem war nur: Ich hasse Gelbwurst!
Damals wie heute. Unverändert. Ich kann da nichts machen. Selbst wenn ich damit allen Gelbwurst-Liebhabern auf den Schlips trete … oder eben auch der netten Dame hinter dem Metzgereitresen, die freundlich lächelt und mir doch nur den Tag versüßen … also vergelbwursten möchte … also mir etwas Gutes tun wollte.

Moment mal! … „mir etwas Gutes tun wollte …“ – Haben Sie`s gemerkt? – wir sind da! Wir sind tatsächlich in der Theologie angekommen (zumindest, wenn wir das wollen), denn:
„Jemandem etwas Gutes tun; helfen; den Nächsten lieben“ – das ist ganz eindeutig theologisch, biblisch, christlich … und gar nicht so leicht, sagt uns die Gelbwurst.

Und ich fürchte: Sie hat Recht!
Jemandem wirklich etwas Gutes zu tun, jemandem wirklich zu helfen – das ist eine hohe Kunst!
Warum? Weil du dabei, eben nicht bei dem anfangen kannst, was du für dich weißt.
Es geht nicht um dich; im Idealfall ganz und gar nicht um dich … und das, das fällt uns Menschen oft gar nicht leicht. Kunststück: Jeder von uns ist ja 24X7 mit sich selbst zusammen und da ist es eben schwer auf einmal, plötzlich von sich selbst abzusehen. … Trotzdem aber, glaube ich, es kann klappen. Wirklich wahr!

… Vor ein paar Wochen bin ich hingefallen. Am Bahnhof. Die Treppe rauf. Sehr damenhaft. Sehr graziös! Ganz bestimmt (nicht)!
Fest steht, im Endergebnis lag ich da, auf meinen Knien, irgendwie unvorteilhaft über die Treppenstufen ausgebreitet, Po in die Luft, als ein älterer Herr auf mich zukam:
„Darf ich Ihnen aufhelfen?“ fragte er und ich musste trotz allem lächeln!

„Darf ich Ihnen aufhelfen?“ – Das ist ja wohl der perfekte Satz!
Er sagt aus:
1) „Ich habe gesehen, Sie sind hingefallen und es ist mir nicht egal.“ – Schon mal nicht alltäglich!
2) „Ich habe gesehen, Sie sind hingefallen, es ist mir nicht egal, ich möchte gerne helfen, habe auch schon eine Idee, was ich machen könnte, aber ich frage jetzt erst mal, ob Sie das überhaupt wollen.“ – schon mal nicht alltäglich, dafür aber ziemliche großartig, denn es könnte ja sein, dass ich gar nicht aufgeholfen bekommen will!

Vielleicht will ich unbedingt selber wieder aufstehen, um mir zu beweisen, dass ich es kann, zum Beispiel.
Oder ich schäme mich ohnehin schon in Grund, Boden und Treppe und möchte absolut nicht, dass jetzt noch jemand „Gewese“ um mich macht – egal, wie gut gemeint!
Oder ich will einfach nicht von einem fremden Mann angefasst werden. Könnte alles sein … hätte alles sein Recht … und wirklich helfen, wirklich etwas Gutes tun, sähe dann jeweils immer anders aus…

… und so bleibe ich dabei: „Darf ich Ihnen aufhelfen?“ – das ist der perfekte Satz.
Vor allem auch, weil da „darf“ steht und nicht „soll“: „Soll ich Ihnen aufhelfen?“ – Das klingt nach Pflicht. Beinahe ein bisschen wie: „Soll ich jetzt den Müll noch runter bringen?“
Darf hingegen … Darf ich Ihnen aufhelfen? … Das klingt nach einer Ehre!

Und das ist es doch auch!
Wenn wir jemandem helfen, dann stehen wir – ganz automatisch, selbst wenn wir es nicht wollen – über demjenigen, der Hilfe braucht: Wir sind die Starken! Die Mächtigen!
Und der, der Hilfe annehmen muss, das ist der Schwache, der Ohnmächtige. Verbrieft und gesiegelt, zumindest für diesen Moment.

Wenn das aber stimmt – und ich glaube, es stimmt – dann ist es doch wirklich eine Ehre, wenn uns jemand erlaubt, ihr oder ihm helfen zu dürfen …

… es ist eine Ehre.
Eine Ehre, die man, so denke ich, leise empfangen sollte.
Ganz vorsichtig und verborgen. Verborgen vor allem auch vor sich selbst!
Diese Ehre, das ist kein Verdienst, den man vor sich herträgt, verzinst, verzollt, verbucht, das sind keine bunten Federn, die man aufsteckt – nicht vor dem, dem man geholfen hat; nicht vor sich selbst, nicht vor der Welt und schon gar nicht vor Gott:
„Wenn du aber Almosen gibst“, so heißt es schon in der Bergpredigt, „so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut.“ … auch so ein perfekter Satz, beinahe wie:

„Darf ich Ihnen aufhelfen?“ fragt er, der ältere Herr, hinter mir und ich muss trotz allem einfach lächeln und beinahe automatisch nicke ich.
Und er hilft mir auf. Ganz vorsichtig. Und er hält mich fest, bis ich stehe. Schaut mich noch einmal prüfend an und dann lässt er mich los.

Er tritt drei Schritt zurück.
Wir sehen uns an. Auf Augenhöhe jetzt.

Er lächelt: „Schönen Tag noch!“ sagt er, als wäre nichts geschehen – und ich?
Ich gehe, so beschwingt, wie schon lange nicht mehr die Straße hinunter.
Ich komme an einer Metzgerei vorbei, die Tür geht auf, ein kleines Mädchen kommt heraus, in ihrer Hand eine dicke Scheibe Gelbwurst, auf ihrem Gesicht ein breites Strahlen, von einer Backe zur anderen. …
… Tja … Jemandem etwas Gutes tun, helfen, den Nächsten lieben – das mag eine hohe Kunst sein, doch manchmal; braucht es wirklich nicht mehr als eine Scheibe Gelbwurst. … Gott sei Dank!

Ihre Pfarrerin Eva Mundinar