Die 300 Silbergroschen Frage

„Und als Jesus in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt …“

so lese ich im Markusevangelium von der Salbung in Betanien und ich mag diese Geschichte.

Sie ist wie eine Verschnaufpause. Ein Aufatmen. Zwischen all dem, was schon passiert ist und dem, was noch kommen wird. Ein ganz kleiner, aber rundherum guter Moment. Ein Mut-Macher. Ein Rücken-Stärker. Ein Seelen-Streichler für Jesus, so stelle ich es mir jedenfalls vor … und im selben Moment macht sich meine Seele auf den Weg: Durchstreicht meine letzte Woche nach ihren rundherum guten Momenten. Und sie findet! Trotz Ausgangsbeschränkung, Klopapier-Hamsterungen und der schlichten Unmöglichkeit, Hefe zu kaufen, findet sie. – Einiges sogar!

Am Montag z.B. habe ich von meiner Herzens-Oma aus Schweinfurt eine SMS bekommen: „Na mein liebes Enkelkind, wie geht`s dir bei all diesem Wahnsinn?“ „Mein liebes Enkelkind…“ Mein Herz schlägt höher, ich darf Enkel-Kind-geborgen sein … für die Länge einer SMS … für einen Moment. Was für ein Geschenk!

Am Mittwoch begegnet mir auf meinem Spaziergang durch Rimpar eine junge Frau mit einem jungen Hund an der Leine: ein Energiebündel mit neugierigen Knopfaugen in Flauschel-Fell. So viel Lebensfreude, dass ich gar nicht anders kann: Ich grinse. Und die Frau und ich, wir grüßen uns – und zwar nicht so, wie wir es von einem Monat noch getan hätten: irgendein Gruß; irgendwie dahin genuschelt. Nein! Wir sehen uns an. Einander in die Augen. Wir lächeln, sagen: „Hallo“ und meinen es so. Und meine Füße finden ihren Weg beschwingter nach Haus. Was für ein Geschenk!

Und heute schließlich, am Sonntag, sitze ich an meinem Küchentisch und schreibe diese Gedanken für Sie auf. Vor meinem Fenster singen die Vögel, die Sonne scheint, der Himmel ist blitzblau. Und ich atme tief, atme auf … und in Betanien gießt eine Frau Öl auf Jesu Kopf … und es ist ein rundherum guter Moment … also … es könnte ein rundherum guter Moment sein, oder eben auch nicht, denn:

„Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an.“

Sie fuhren sie an. Sie fahren dazwischen. Und wissen Sie was? Genau das kenne ich auch. Genau das ist mir auch passiert in der letzten Woche: Ja, ich habe die SMS meiner Oma gelesen: „Mein liebes Enkelkind…“ Und ja, mein Herz hat höher geschlagen, doch gleichzeitig – gleichzeitig! –  haben einige, einige Stimmen in mir sofort die 300-Silbergroschen-Frage gestellt: „Da muss doch mehr gehen?!“ Ich will mehr!

Ich will im Zug (in einem vollen Zug!) nach Schweinfurt fahren, meine Herzens-Großeltern besuchen, mit ihnen Kuchen essen, reden, lachen und die einzige Sorge soll sein, ob die vierte Tasse Kaffee nach vier Uhr wirklich noch eine gute Idee ist … Das will ich!

Und ich will der jungen Frau auf der Straße sagen können: „Ihr Hund ist so süß! Darf ich den mal streicheln?“ Und falls ich darf, möchte ich in die Hocke gehen und feststellen, ob dieses Hundefell wirklich so weich ist, wie es aussieht…

Ich will 8 EUR der 300 Silbergroschen ausgeben für ein Spagetti-Eis. In einer Eisdiele. Mit einer Freundin… Das will ich! „Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können.“

Und sie fuhren sie an. Sie fahren dazwischen …  die Menschen damals in Betanien… und die Stimmen heute in meinem Herzen: Sie stellen die 300- Silbergroschen-Frage.

Nun verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich glaube, das ist eine wichtige Frage. Eine, die machen kann, dass wir die Geschenke, die wir bekommen gut einsetzen, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen, unsere Talente nicht vergraben.

Gleichzeitig aber weiß der Prediger: Alles hat seine Zeit. Säen hat seine Zeit und ernten hat seine Zeit. Die Silbergroschen-Frage stellen hat seine Zeit.

Und zumindest für Jesus damals in Betanien war klar: Diese Zeit ist nicht jetzt. Entschieden ergreift er Partei für die Frau mit dem Salböl, für den nur kleinen, aber rundherum guten Moment: „Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan“, so die Antwort Jesu.

Und ich? Ich lese sie. Meine eigene 300-Silbergroschen-Frage schaut mir dabei über die Schulter und zuckt leicht zusammen: Damals war nicht ihre Zeit und wir ahnen beide, vielleicht ist auch heute nicht ihre Zeit, obwohl wir uns damit wirklich schwer tun. Nachdenklich schauen wir uns an – meine Silbergroschen-Groschen-Frage und ich. Doch dann fällt unser Blick auf mein rotes Sofa, gemütliche Kissen liegen darauf, vergnügtes Blumenmuster und gute Lektüre, Astrid Lindgrens „Kalle Blomquist“. Was will man mehr?

Und bevor ich mich versehe, hat sich meine Frage auf dem Sofa zurecht gekuschelt und liest … Mal sehen, was passiert, wenn der nächste kleine rundherum gute Moment kommt… womöglich hat die 300-Silbergroschen-Frage dann einfach keine Zeit. Ich wünsche es mir und vor allem auch Ihnen! Auf dass Sie gute Orte für Ihre 300-Silbergroschen-Fragen finden.

Bleiben Sie behütet.

Ihre Pfarrerin Eva Mundinar