Das Johannesevangelium – ein besonderes Evangelium

Mit dieser Reihe wollen wir auf unserem Blog etwas Neues starten. Wir wollen gemeinsam mit Ihnen ein biblisches Buch genauer unter die Lupe nehmen.
Auf der Suche nach einem geeigneten Buch sind meine Kollegin und ich schnell beim Johannesevangelium gelandet. Wir sind der Meinung, dass dieses Evangelium besonders geeignet ist, in wenigen Texten auf die Besonderheiten eingehen zu können. Die nachfolgenden Ausführungen dienen einer ersten Orientierung und nehmen das Johannesevangelium quasi aus der Vogelperspektive in den Blick. In den nächsten Beiträgen werden wir sie Schritt für Schritt durch dieses wundervolle Evangelium führen.

Denn: Das Johannesevangelium ist besonders. Beim Lesen wird einem das schnell klar. Viele Erzählungen, die sowohl bei Matthäus, Markus und Lukas aufgeschrieben sind – wegen dieser Übereinstimmungen nennt man diese auch die synoptischen Evangelien –, fehlen gerade im Johannesevangelium. Umgekehrt finden sich bei Johannes Texte, die man in den übrigen Evangelien vergeblich sucht. Dieser Andersartigkeit begegnet einem schon in den ersten Versen. Denn im Gegensatz zum Matthäus- und Lukasevangelium beginnt das Johannesevangelium nicht mit einer Weihnachtserzählung im klassischen Sinn, sondern im sogenannten Prolog (Joh 1,1–18) mit einer quasi philosophischen Abhandlung: „Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort […]“. Dieses Wort kommt in die Welt. Gemeint ist damit natürlich Jesus Christus. Aber sie merken sicherlich: Das unterscheidet sich schon deutlich von dem, was die übrigen Evangelien berichten.

Eine andere Ereignisabfolge

Neben diesem besonderen Auftakt ist die grundsätzliche Bewegung des Johannesevangeliums eine andere. Matthäus, Markus und Lukas stimmen darin überein, dass sich Jesu öffentliches Wirken schwerpunktmäßig auf Galiläa, einer Region im Norden Israels beschränkt hat. Erst gegen Ende seines öffentlichen Wirkens hat sich Jesus von dort auf den Weg nach Jerusalem gemacht, wo er dann verhaftet, verurteilt und gekreuzigt worden ist. Das Johannesevangelium berichtet dagegen von mehrere Jerusalemaufenthalten Jesu. Bereits zu Beginn seines öffentlichen Auftretens soll Jesus nach Jerusalem gereist sein, um dort das Passafest zu feiern. Bei dieser Gelegenheit ist Jesus in den Tempel gegangen und hat alle Händler hinausgeworfen (Joh 2,13–25). Die übrigen Evangelien berichte allesamt davon, dass diese Tempelreinigung erst unmittelbar vor seiner Kreuzigung in Jerusalem stattgefunden hat.

Ich-bin-Worte und Zeichenhandlungen

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass der Jesus des Johannesevangeliums viel weniger durch wundervolle Krafttaten auffällt. Es werden viel weniger Heilungen berichtet und die Dämonenaustreibungen fehlen beispielsweise komplett. Auch nennt das Johannesevangelium diese Taten nicht „Wunder“, sondern „Zeichen“. Diese Bezeichnung ist interessant. Denn ein Zeichen stellt sich nicht selbst in den Mittelpunkt, sondern weist über sich hinaus.
Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die für die Evangelien so typischen Gleichniserzählungen bei Johannes vollständig fehlen. Dafür zeichnet sich das Evangelium durch lange Reden aus. In diesen rückt eine weitere Besonderheit in den Mittelpunkt, nämlich die sog. „Ich-bin-Worte“. Besonders bekannt ist Joh 8,12: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“
Besonders sind auch Joh 14–16. Diese drei Kapitel werden auch „Abschiedsreden“ genannt. Denn wie das Wort schon sagt, steht das Thema des Abschiednehmens im Mittelpunkt. Jesus bereitet seine Jünger darauf vor, dass er nicht mehr lange bei ihnen sein kann. Wo er hingehen wird, können ihn seine Jünger nicht begleiten. Für die Freunde Jesu war das sicherlich alles andere als eine gute Nachricht. Mit Angst und Unsicherheit dürften sie auf diesen Moment geblickt haben. Trotzdem fordert Jesus sie auf: „Euer Herz erschrecke nicht!“ Auf seelsorgerliche Art und Weise geht Jesus auf seine Jünger ein. Ja, es wird der Moment der Trennung kommen. Aber sie brauchen sich nicht davor zu fürchten. Denn Jesus wird sie nicht allein in dieser Welt zurücklassen. Wenn er bei seinem Vater ist, wird er ihnen einen Beistand, den Parakleten – Heiliger Geist wird er auch genannt, senden. Dieser wird an seiner statt bei den Jüngern sein und sie in eine neue Form der Gemeinschaft mit ihm führen. Deshalb endet Jesus in Joh 16 mit dem bekannten Zuspruch: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“

Besondere Begegnungen

Abschließend möchte ich auf eine weitere Besonderheit zu sprechen kommen. Das Johannesevangelium beschreibt intensiv die Begegnung einzelnen Personen mit Jesus. Eindrücklich ist z.B. das Gespräch zwischen und dem Pharisäer Nikodemus (Joh 3). Heimlich schleicht er sich des Nachts zu Jesus, um mit ihm theologische Fragen zu erörtern. Vielleicht war ihm eine Begegnung bei Tage zu heikel, weil er Angst vor den übrigen Gelehrten hatte, die Jesus kritisch gegenüberstanden. Umgetrieben hat ihn die Frage, was man tun muss, um das Reich Gottes sehen zu können. Bekannt ist auch seine Begegnung mit der samaritanischen Frau am Brunnen (Joh 4). In der Mittagszeit – als der Tageszeit, in der man jegliche Arbeit zu vermeiden suchte – kommt sie, um Wasser zu schöpfen. Dort trifft sie auf Jesus und er verwickelt sie in ein Gespräch über das Wasser, über das Durst stillen und über das Leben im Allgemeinen. Und obwohl die Frau zu Beginn Jesus anbietet für ihn Wasser schöpfen zu wollen, ist es am Ende der Unterhaltung er, der der Frau lebendiges Wasser geben möchte.
Besonders bewegend ist sodann die Begebenheit mit dem bereits verstorbenen Lazarus (Joh 11). Dieser war krank. Maria, seine Schwester schickte deshalb nach Jesus, in der Hoffnung, dass dieser Lazarus heilen könne. Aber Jesus lässt sich Zeit. Und als er bei Maria ankommt, erfährt er, dass Lazarus bereits vor vier Tagen verstorben ist. Man führt ihn ans Grab seines Freundes.  Dort angekommen ist Jesus derart angerührt, dass er anfängt, zu weinen. Danach entspinnt sich ein Gespräch zwischen ihm und Maria, dass die Hoffnung auf eine Auferstehung von den Toten zum Inhalt hat.
Bemerkenswert ist schließlich das Aufeinandertreffen von Jesus und dem zweifelnden Thomas (Joh 20). Jesus war den übrigen Jüngern bereits erschienen. Zu diesem Zeitpunkt war Thomas aber nicht mit ihnen gewesen. Dass Jesus von den Toten auferstanden sein soll, kann er nach eigenen Worten erst dann glauben, wenn er ihn mit eigenen Augen sieht und mit seinen Händen die Wundmale berühren kann. Jesus geht auf den Zweifler Thomas ein und holt ihn dort ab, wo er gerade steht.

Ich hoffe, dass dieser Flug aus der Vogelperspektive über das Johannesevangelium Sie nicht abgeschreckt, sondern Ihnen Lust gemacht hat, sich diesem besonderen Evangelium einmal auszusetzen und in es einzutauchen. Dazu wollen wir Ihnen in den kommenden ca. sechs Wochen die Möglichkeit geben. Am kommenden Freitag wird der nächste Text erscheinen, der sich mit dem Autor dieses besonderen Evangeliums beschäftigen wird.