Kirchen… systemrelevant?!?
12 Wochen ohne Gottesdienst! Was für mich bisher nur schwer vorstellbar schien, ist tatsächlich Wirklichkeit geworden. An Himmelfahrt, den 21.05.2020, habe ich meinen ersten Gottesdienst seit dem 16. Februar gehalten. Dazwischen liegt eine Zeit, in der mein Leben und mein Arbeitsalltag zunächst von 100 auf nahezu null heruntergefahren worden sind und ich mich erst neu orientieren musste. Ich kann mich noch gut an die Woche vor dem Shutdown erinnern. Vom 09. bis zum 11. März war ich noch auf einer Fortbildung in Bamberg. Für den 13. März hatte ich mit meiner Kollegin eine größere Gemeindeveranstaltung in der Gemeinde geplant. Im Laufe dieser Woche hat sich das Thema „Corona-Virus“ immer mehr zugespitzt. Deshalb haben wir uns am Donnerstag dazu entschieden, die Veranstaltung am darauffolgenden Freitag abzusagen. Am Sonntag den 15. März fand der vorerst letzte Gottesdienst in der Hoffnungskirche statt, denn noch am gleichen Tag wurde von politischer Seite eine gesellschaftliche Vollbremsung verordnet. Alle Gemeindeveranstaltungen mussten abgesagt werden und selbst das Feiern von Gottesdiensten wurde verboten.
Für mich war das eine vollkommen neue Situation. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie erlebt, dass meine Freiheitsrechte in größerem Umfang eingeschränkt gewesen wären. Und dann das! Auch unter Pfarrerinnen und Pfarrern ist diese „neue Realität“ ganz unterschiedlich bewertet worden. Für mich war klar, dass ich nach neuen Wegen suchen wollte, um mit Menschen trotz Ausgangsbeschränkung in Kontakt zu bleiben und ihnen trotz Gottesdienstverbot Angebote machen zu können. Aber es gab auch die Stimmen, die das Verbot der Gottesdienste betrauerten.
In dieser Situation ist gesellschaftlich etwas offen zu Tage getreten, was unter der Oberfläche schon viel länger Realität gewesen ist: Kirchen sind nicht (mehr) systemrelevant. Der evangelische Theologieprofessor Ulrich Körtner hat das in der Zeitschrift Zeitzeichen treffend auf den Punkt gebracht:
„Im Ausnahmezustand entdeckten Gesellschaft und Politik, wie wichtig nicht nur Ärzte und Pflegekräfte, sondern auch Polizisten, Soldaten und Verkäuferinnen sind. Ihnen wurde öffentlich applaudiert. Von Pfarrern und Pfarrerinnen war nicht die Rede. Vom Shutdown gab es für die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften keine Ausnahmen. Religion, so die Lehre der zurückliegenden Monate, ist in der säkularen Gesellschaft nicht ‚systemrelevant‘. Kirchen, Synagogen und Moscheen wurden geschlossen, öffentliche Gottesdienste und das Freitagsgebet untersagt, während Baumärkte und Gartencenter geöffnet blieben oder gleich nach Ostern wieder aufsperren durften.“
Ulrich Körner in: https://zeitzeichen.net/node/8315
Kirchen sind nicht (mehr) systemrelevant. Selbst die Pastorentocher Angela Merkel hat in der Krise kein Bedauern darüber zum Ausdruck gebracht, dass Gottesdienste verboten werden mussten. Diese Erkenntnis könnte man jetzt betrauern. Man könnte sich auch darüber beschweren, dass es unverhältnismäßig sei, wenn Baumärkte und Geschäfte wieder öffnen dürfen, Kirchen aber noch untersagt bleibt, Gottesdienste zu feiern. Ich finde es nicht sinnvoll, etwas zu betrauern, was in unserer Gesellschaft offensichtlich nicht mehr den Realitäten entspricht. Viele Menschen schreiben den Kirchen keine allzu große Relevanz mehr zu. Und in gewisser Weise haben sie ja sogar Recht: Unsere gesellschaftliche Ordnung bricht nicht zusammen, nur weil für ein paar Wochen keine Gottesdienste mehr gefeiert werden dürfen.
Trotzdem glaube ich, dass die Aussage „Kirchen sind nicht länger systemrelevant“ zu kurz greift. Denn während das für einen reibungslosen Ablauf unserer Gesellschaft zutreffen mag, ist damit noch nichts über die Bedürfnisse der einzelnen Menschen ausgesagt. Und in diesem Bereich – davon bin ich zutiefst überzeugt – ist der Glaube von Relevanz. Die vergangene Zeit war nämlich geprägt von Angst und Unsicherheit. Angst ist grundsätzlich kein allzu guter Ratgeber. Angst führt dazu, dass Menschen anfangen, sich irrational zu verhalten. Zu Beginn der Corona-Pandemie ist das deutlich geworden. Alles was ich tun musste, war in den DM zu gehen: Kein Klopapier, keine Konserven, keine Milch (nicht mal Hafermilch!) keine Seife. Angesichts der unsicheren Lage haben wir Menschen damit begonnen, Dinge zu hamstern, die wir für notwendig erachtet haben.
Der Glaube an einen Gott, der mich sieht und für mich sorgt, wirkt einer solchen Angst entgegen, weil ich mich bei ihm geborgen wissen darf. „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“, so heißt es im zweiten Brief an Timotheus (2Tim 1,7). Genau das ist es, was wir in einer solchen Krise benötigen. Wir brauchen Menschen, die nicht von Angst getrieben handeln, sondern die besonnen agieren, weil sie sich getragen und umhüllt wissen von der Liebe Gottes. Eine solche Haltung fällt mir nicht in den Schoß. Sie will Tag für Tag eingeübt werden. Aber wenn ich mir diesen Geist immer wieder schenken lasse, dann kann ich voll Zuversicht dem entgegen gehen, was die Zukunft für mich bereithalten mag, selbst in Zeiten von Corona.
In diesem Sinn mögen vielleicht die Kirchengebäude und die Organisation nicht systemrelevant sein, der Glaube aber ist es schon. Denn dieser hilft Menschen dabei, mit einer solchen Krise umzugehen und sie schließlich auch zu bewältigen. Ein solcher Glaube hilft dabei, Tag für Tag vertrauensvoll nach vorne zu blicken. Und genau das habe ich als Pfarrer in der Krise erlebt. Ich habe erlebt, dass Menschen sich bedankt haben für geistliche Impulse, die wir als Kirchengemeinde ihnen zugeschickt haben. Aus den biblischen Texten und aus den Kirchenliedern konnten sie Kraft für ihren Alltag ziehen. Ich habe erlebt, dass Menschen rückgemeldet haben: Danke, dass ihr an mich denkt, das hat mir gutgetan. Und ich habe ebenfalls erlebt, dass Menschen sich engagiert und anderen Menschen ihre Hilfe angeboten haben.
„Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ In diesem Sinne ist Glaube nicht irrelevant, sondern tatsächlich systemrelevant. Denn ohne Menschen, die diese Besonnenheit und Liebe in ihren Herzen tragen, wäre unsere Gesellschaft ärmer und kälter.
Es grüßt Sie Ihr Pfarrer Johannes Körner