Gedanken zum Sonntag Lätare
Liebe Leserinnen und Leser,
auf diesem ungewöhnlichen Weg möchte ich einige Gedanken zum Sonntag Lätare mit Ihnen teilen. Lätare heißt übersetzt: „Freue dich! Sei fröhlich!“ Diese Aufforderung zur Freude mag in diesen Tagen in doppelter Hinsicht überraschen. Zunächst einmal befinden wir uns kirchenjahreszeitlich mitten in der Passionszeit. Wie passt die Aufforderung zur Freude in diese Zeit, in der wir doch der Leiden Jesu gedenken? In der Kirche hängen an Altar und Kanzel die violetten Paramente. Sie sind Ausdruck für eine ruhige und nachdenkliche Zeit, eine Zeit der Vorbereitung auf das Osterfest. Diese Zeit ist außerdem von Verzicht geprägt. Die Passionszeit ist Fastenzeit: Sieben Wochen ohne eine Sache, die mir sonst besonders wichtig ist. Verzicht bringe ich nicht unbedingt mit Freude in Zusammenhang. Das diesjährige Motto der Fastenaktion der evangelischen Kirche lautet: „Sieben Wochen ohne Pessimismus.“
10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.
11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.
12 Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.
13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.
14 Ihr werdet’s sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.
Jesaja 66,10–14:
Dieses Motto passt unglaublich gut in unsere jetzige Zeit. Denn neben dem kirchenjahreszeitlichen Aspekt verleitet mich unsere aktuelle gesellschaftliche Situation ebenfalls nicht dazu, in Jubelstürme auszubrechen. Die vergangenen Tage waren und sind für viele Menschen von einer großen Unsicherheit bestimmt. Pessimismus macht sich breit. Wie wird sich die Lage in unserem Land angesichts der immer stärkeren Ausbreitung des Corona-Virus entwickeln? Werden den Menschen von Seiten der Politik weitere Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens auferlegt? Gerade für die jüngere Generation (ich zähle mich zu dieser Gruppe) ist das eine ganz neue Situation. Wir sind in einem Land aufgewachsen, das uns größtmögliche Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten gewährt hat. Diese Freiheiten auf einmal eingeschränkt zu sehen, ist vollkommen ungewohnt und macht mir manchmal auch ein wenig Angst. Und trotz dieser ungewissen Situation soll ich mich freuen, fröhlich sein und zuversichtlich in die Zukunft blicken? Der Predigttext, der beim Propheten Jesaja im 66. Kapitel steht, fordert mich zumindest dazu auf!
Pessimistisch haben auch die Israeliten damals in die Zukunft geblickt. Nach Krieg Gefangenschaft und Exil, nach zahlreichen Demütigungen wussten die Menschen nicht genau, was die Zukunft ihnen bringen würde. Sie wussten nicht, was sie in der Heimat erwarten wird. Liegt Jerusalem immer noch in Trümmern? Und was ist mit dem Tempel, dem religiösen Zentrum? Wird man dort überhaupt noch Gottesdienste feiern können? Der Zustand der Stadt hat die Menschen in der Vergangenheit traurig gemacht. In diese Ungewissheit hinein spricht der Prophet aufmunternde und ermutigende Worte. „Freut euch über Jerusalem…! Freut euch über die Stadt, die euch so oft traurig hat werden lassen!“ Denn Gott will ausgerechnet ausgehend von Jerusalem sein heilvolles Wirken in dieser Welt aufrichten. Ausgehend von Jerusalem will er den Mangel der Menschen stillen. Ausgehend von Jerusalem will er seinen Frieden in dieser Welt aufrichten. Und: Ausgehend von Jerusalem will er die Menschen tröstet, wie einen seine Mutter tröstet.
Der Autor gebraucht hier wirklich ein wunderbares Bild. Gott wird wie eine Mutter beschrieben, die ihrem Kind Trost spendet, wenn es sich verletzt hat oder krank geworden ist. Dieses Bild weckt Erinnerungen. Als ich noch klein war, da konnte ich mich noch zu meiner Mutter flüchten, wenn ich mir das Knie aufgeschlagen hatte. Ich konnte mich auf ihren Schoß kuscheln, das Gesicht an die Brust gedrückt, ich konnte die Wärme spüren, das sanfte Schaukeln und die Hände, die mir liebevoll den Rücken streichelten. Wenn sie tief in sich hineinhorchen, dann spüren sie vielleicht auch etwas von diesem Gefühl der tiefen Geborgenheit und Nähe.
Dieses Bild der tiefen Geborgenheit und nähe wir hier auf Gott übertragen. „Nacham“, das hebräische Wort für trösten, bringt diese Zuwendung Gottes auf den Punkt. Wenn Gott tröstet, dann bedeutet das, dass er sich mir erbarmungsvoll zuwendet. Er hat Mitleid. Er leidet mit mir in meiner Not. Man könnte sogar so weit gehen und sagen, dass er meine Not mit erleidet. Aber dabei bleibt Gott nicht stehen. Der Trost Gottes beinhaltet immer auch die Ermutigung, dass ich aus einer Situation gestärkt hervorgehen kann.
Weil der Trost Gottes diese vielen Aspekte beinhaltet, glaube ich, dass die Aufforderung zu Beginn des Textes „Freut euch“ gerade in unseren Tagen so wichtig ist und uns dabei helfen kann, eben nicht pessimistisch, sondern vertrauensvoll in die Zukunft zu blicken. Vertrauensvoll deshalb, weil wir an einen Gott glauben, der uns sieht, der uns ansieht in all unserer Ungewissheit und Angst und sich nicht abwendet. Wir können zuversichtlich in die Zukunft blicken, weil Gott mit uns leidet und gerade diese Gewissheit ist tröstlich. Wenn wir das glauben, werden wir erleben, dass Gott uns durch diese Zeit führen wird und unser Herz wird sich freuen.
Es segne und behüte Sie der allmächtige und barmherzige Gott.
Ihr Pfarrer Johannes Körner