Man oh Man
In letzter Zeit ist mir in ganz unterschiedlichen Gesprächen immer wieder eine Person begegnet. Diese Person kann eine relative Bekanntheit und eine große Autorität für sich in Anspruch nehmen. Und deshalb gehorchen viele Menschen seinen Anweisungen. Diese Person hat sich auf zahlreichen, ganz unterschiedlichen Feldern hervorgetan. Ich spreche hier von Herrn MAN. Nach ihm richten sich viele Menschen aus…
MAN macht das nicht! Oder:
MAN macht das so.
Als Papa ist mir aufgefallen, dass dieser Herr MAN gerade in der Kindererziehung eine große Autorität zu sein scheint. Ich höre immer wieder Sätze wie diese: „Man entschuldigt sich, wenn man jemandem etwas weggenommen hat.“ Oder: Wenn das Kind etwas geschenkt bekommen hat, wird die Frage gestellt: „Wie sagt man?“ Und so weiter.
Aber auch im Christentum kann dieser Herr man auf eine lange Tradition zurückblicken. Er kommt vor allem dann zum Vorschein, wenn der moralisierende Zeigefinger erhoben wird. Als Christ liest man in der Bibel und man betet vor dem Essen. Als Christ kann man doch nicht in die Disco gehen und von Zigaretten und Alkohol lässt man besser auch die Finger. Als Christ gibt man außerdem einen Teil seines Einkommens für wohltätige Zwecke und den sonntäglichen Gottesdienst? Den besucht man ohnehin. Ach ja und außerdem: Als guter Christ geht man am Sonntag nicht zum Bäcker und kauft dort keine Brötchen. Ist ja schließlich Feiertag…
23Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen.
24Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?
25Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren:
26wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?
27Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
28So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.
Markus 2,23–28
Bei diesem Herrn man handelt es sich keineswegs um ein neuzeitliches Phänomen. In den biblischen Texten hat er bereits an der einen oder anderen Stelle seinen Auftritt. So auch in der Erzählung vom Ährenraufen der Jünger.
Der Text beginnt zunächst ganz unscheinbar. Jesus ist mit seinen Jüngern unterwegs. Es ist Sabbat und weil seine Jünger hungrig waren, fingen sie an in einem Kornfeld Ähren zu pflücken und mit den Fingern zu zerreiben. Aber auf einmal werden sie in ihrem Tun abrupt unterbrochen. Die Pharisäer erscheinen plötzlich auf der Bildfläche. Es scheint fast so, als hätten diese sich in und um das Kornfeld auf die Lauer gelegt, um Jesus und seine Jünger auf frischer Tat zu ertappen.
Die Jünger sind den Pharisäern in die Falle gegangen „Warum tut ihr am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ Oder anders ausgedrückt: „Was ihr am Sabbat tut, das macht man nicht. Als frommer Jude verhält man sich anders.“ Die Pharisäer werfen den Jüngern vor, sie würden das dritte Gebot übertreten. Denn in diesem gebietet Gott seinem Volk, den Sabbat zu heiligen, indem sie keine Arbeit verrichten. Allerdings definiert das dritte Gebot nicht genau, was mit Arbeit gemeint ist. Also hat man versucht, bestimmte Verhaltensweisen festzulegen, damit der Sabbat als Tag für Gott geheiligt werden kann. Es war damals z.B. genau vorgeschrieben, wie viele Schritte eine Person am Sabbat gehen durfte. Es war verboten, Feuer im Herd zu machen und natürlich durfte niemand an diesem Tag die Ernte des Feldes einbringen.
Im Ausraufen der Ähren haben die Pharisäer ein Verhalten der Jünger Jesu ausgemacht, die in ihrer Gesetzesauslegung gegen das Sabbatgebot verstoßen hat. Am Sabbat macht man das nicht!
Aber Jesus stellt die Autorität dieses man in Frage und nimmt seine Jünger gegenüber diesen Anschuldigungen der Pharisäer in Schutz. Er entschuldigt sich aber nicht einfach bei den Pharisäern. Er versucht auch nicht, sich aus der Sache herauszureden nach dem Motto: „Meine Jünger hatten Hunger! Das müsst ihr doch verstehen.“ Jesus fordert hier keine Ausnahme von der Regel. Nein, er stellt die Sinnhaftigkeit der Regel grundsätzlich in Frage.
Er tut das, indem er sich auf eine andere Autorität im Judentum bezieht, nämlich auf den König David. Damit versucht er herauszustellen, dass die Pharisäer das Sabbatgebot völlig falsch verstanden hätten. Seine Argumentation gipfelt im Spitzensatz: „Der Sabbat besteht um des Menschen willen und nicht der Mensch um des Sabbat willen.“
Jesus versteht das Sabbatgebot radikal anders, als der religiöse Mainstream seiner Zeit. Denn in seinem Verständnis sind die göttlichen Gebote den Menschen nicht um ihrer selbst willen gegeben. Die göttlichen Gebote sollen uns Menschen vielmehr dabei helfen, einen Rahmen abzustecken, in dem unser Leben sich entfalten und gedeihen kann. Aber so oft haben wir Menschen aus diesen gut gemeinten Anweisungen ein Regelwerk gemacht, das jetzt belastet und nicht befreit. Gegen diese Belastung der Menschen hat Jesus Einspruch erhoben. Denn der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat für den Menschen.
Mit seiner Interpretation des Sabbatgebotes fordert Jesus auch mich heraus. Er fordert mich dazu heraus, alle „christlichen“ Gesetze zu prüfen, und zwar dahingehend, ob sie dem Leben dienen oder ob sie gar das Leben behindern. Jesus fordert mich heraus, Gebote nicht einfach um ihrer selbst willen aufrecht zu erhalten. Als (guter) Christ macht man das halt so…
Nein! Ich soll immer wieder danach fragen: Dient dieses oder jenes Gebot mir und anderen Menschen? Hilft es mir dabei, in Freiheit leben zu können? Denn die Gebote sind für uns Menschen da und nicht umgekehrt.
Und schließlich fordert Jesus seine Hörer damals und mich heute dazu heraus, auf das göttliche Gesetz durch die Brille der Liebe zu blicken. Denn in seinem Verständnis wird gerade dadurch, durch die Liebe zu Gott und durch die Liebe zu meinem Nächsten das ganze Gesetz erfüllt.
Ihr Pfarrer Johannes Körner