Spieglein, Spieglein an der Wand

Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
Gute Frage!
Antwort:
Ich ganz bestimmt nicht, denn ich hab Corona im Haar, sprich:
es gibt keinen Schnitt, dafür aber jede Menge grau. Ich sehe alt aus auf den Kopf … und, wenn ich genauer hinschaue, auch im Gesicht. Ich beuge mich vor, dem Spiegel entgegen: Diese Falten waren doch früher nicht da, die um den Mund, über der Nase, auf der Stirn …
Meine Güte, graue Haare, Falten… und Organgenhaut, die soll nicht unterschlagen werden, obwohl sie an Stellen ist, die ich in einem öffentlichen Text niemals benennen würde, kurzum:
Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?
Ich ganz bestimmt nicht!

Und Sie?
Sie sagen jetzt vielleicht:
„Na, was will denn die Pfarrerin mit ihren 33 Jährchen? Jammert hier rum! Soll sie erst mal in mein Alter kommen, dann wird sie sich umschauen!“
Guter Einwand.
Ich verstehe, was Sie meinen – doch in der Tiefe heißt es, glaube ich, nur:
Wir verstehen uns!

Wir verstehen:
Es gibt einfach Tage, da sind Spiegel die schlechteste Erfindung der Menschheit!
Tage an denen man sich nicht gut fühlt in seiner Haut, nicht schön … als wäre da nichts zu wollen … Spieglein, Spieglein an der Wand… frustriert drehe ich mich weg … mein Blick fällt auf mein Sofa … und da sitzt bei ihrem Gnadenbrot eine alte Freundin:
Meine Kuscheltierkatze Minka.

Ich habe sie bekommen, als ich ungefähr 8 oder 9 Jahre alt war und von Anfang an, habe ich sie heiß und innig geliebt. Sie war immer, immer dabei, durfte überall mithin … und heute sieht man das:
Ihr Fell, das früher einmal seidig-glatt war, ist heute struppig, an der Nase fehlt es ganz und gar, ihr Schnurrhaare sind zerdrückt und stehen in alle Richtungen ab und – am auffälligsten – ungefähr alle Watte aus ihrem Körper ist in ihren Kopf gewandert, also wahrscheinlich habe ich sie nach oben gekuschelt … Tja und jetzt? Spieglein, Spieglein an der Wand … ich wette, Minka hält sich auch nicht immer für die Schönste im ganzen Land … v.a. weil es direkt in ihrer Nähe den Elefanten gibt!

Oh ja, ein anderes Kuscheltier, das ich irgendwann zu irgendeinem Weihnachtsfest haben musste. Unbedingt, auf jeden Fall! Und ich kann meinen Wunsch bis heute sehr gut verstehen: Der Elefant war einfach wunder-, wunderschön … und er ist es noch heute!
Sein Fell ist überall – von der Rüssel-bis zu Schwanzspitze – seidig glatt, Schnurrhaare hat er keine, dafür Ohren in unverändert perfektem Flausch und seine Watte ist, nach all den Jahren, immer noch 100% nach dem Elefanten-Schönheitsideal verteilt …

„… is ja klar!“, denke ich, „schließlich habe ich kaum mit ihm gekuschelt oder gespielt.

Und ich habe ihn nie irgendwo mit hin genommen: nicht mit ins Bett, nicht mit in den Urlaub. Er war nirgendwo, er saß immer in seinem Regal, da konnte ihm nichts passieren, nicht einmal einen Namen hat er bekommen, von einem Charakter ganz zu schweigen…. Tja und jetzt? … Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der bemitleidenswerteste Elefant im ganzen Land?

Mal ehrlich, zerdrückte Schnurrhaare hin oder her: Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre ich lieber an Minkas Stelle. Unbedingt, auf jeden Fall!
„Und vielleicht“, denke ich mit einem Mal, „vielleicht hat sich dieser Wunsch für mich und für uns alle schon erfüllt. Vielleicht sind wir – Gott sei Dank! – alle eher an Minkas Stelle: im Leben, nämlich.
Gott hat uns da hin gestellt. Mitten hinein.
Mitten hinein in all die Erfahrungen, die wir jeden Tag machen.
Mitten hinein zwischen all die Menschen, denen wir jeden Tag begegnen… und spätestens seit dem Shut-down wissen wir, wie schön das ist.

Doch es wird noch besser!
Denn in all dem „Mittendrin“ werden wir auch noch reichlich geliebt; von anderen Menschen, aber v.a. und von allem Anfang an auch von Gott.
Ja, Gott liebt uns, heiß und innig und bei ihm sind wir immer, immer dabei und dürfen überall mit hin, was ja nichts anderes heißt als: Gott ist immer bei uns.
Er hält uns immer in seiner Hand, er hält uns immer im Arm…. „und vielleicht zeigt sich das eben irgendwann: Graue Haare, Falten, Orangenhaut und alles, was Ihr Spiegelbild noch hinzu zufügen hat. Vielleicht sind wir am Ende einfach alle irgendwie ein bisschen abgeliebt. Abgeliebt vom Leben, den Menschen und Gott“, denke ich und lächele:
Ich mag den Gedanken!

Ich mag ihn obwohl er freilich nicht mehr ist, als ein einzelner Gedanke.
Er ist keine Lösung für die Angst, die Trauer, den Schmerz, den uns unsere eigene Vergänglichkeit manchmal bereitet.
Er ist keine Erklärung für das verzweifelte „Warum ausgerechnet ich?“.

Es ist (nur) ein Gedanke; eine Perspektive unter vielen.
Doch ich mag diese Perspektive, ich mag sie so sehr, dass ich kurzentschlossen einen Stift zücke, zwei kleine Karten schreibe und sie an meinen Spiegel hefte – zur Erinnerung:

„Besser abgeliebt, als ungelebt!“

steht auf der einen Karte und auf der anderen:

„Gott ist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“

1, Joh 4,16

Spieglein, Spieglein an der Wand bleiben Sie behütet, in Gottes Hand.

Ihre Pfarrerin Eva Mundinar