Tagebuch eines Pfarrers #1

Liebes Tagebuch,

Ich habe mir in den vergangenen Tagen überlegt, dass du eine gute Anschaffung sein könntest. Denn in meinem Leben passieren immer wieder aufregende und spannende Dinge, die ich gerne festhalten möchte, damit ich sie später nicht vergesse. Versteh mich bitte nicht falsch. Zu hohe Erwartungen darfst du jetzt auch nicht haben. Wenn du glaubst, dass ich hier berichte, wie mir tagtäglich Engel oder andere himmlische Wesen erscheinen, dann bist du falsch gewickelt – oder müsste es bei Papier nicht „falsch geschöpft“ heißen?

Egal: Es soll hier nicht um das Außergewöhnliche gehen, sondern darum, was meinen Alltag als Pfarrer, als Pfarrerin ausmacht. Und nein, du brauchst auch keine Angst davor zu haben, dass ich hier nur darüber schreibe, was ich Sonntag für Sonntag in den Gottesdiensten gepredigt oder getan habe. Zugegeben, das wäre in der Tat eintönig und irgendwann auch langweilig. Aber zu meinem Alltag gehört so viel mehr als der sonntägliche Gottesdienst und davon will ich dir erzählen.

Manches von dem, was ich zu berichten habe, wird lustig und heiter sein. Ich denke da zum Beispiel an einen offiziellen Anlass, zu dem ich als Vertreter der Kirchengemeinde geladen war. Als „Erkennungszeichen“ hatte ich mein Ordinationskreuz – ein kleines silbernes Kreuz mit einem lila (Farbe unserer Landeskirche) Stein in der Mitte – an mein Hemd gepinnt. Nachdem der offizielle Teil vorüber war und ich bei einem Radler am Tisch der geladenen Gäste saß, fragte mich einer: „Und Sie sind wohl vom Roten Kreuz…!“ Ja, genau, weil das „Rote Kreuz“ neuerdings die Farbe Lila verwendet… Im ersten Moment war ich ganz schön baff und darum bemüht, die für alle Seiten peinliche Situation irgendwie in den Griff zu kriegen, aber im Nachhinein muss ich über diese Begebenheit einfach schmunzeln, weil sie zu komisch gewesen ist.

Andere Erlebnisse, die ich zu berichten haben, sind dagegen schwer und traurig. Es ist sehr herausfordernd, wenn ich z.B. bei einem plötzlichen Todesfall zur Aussegnung nach Hause gerufen werde, Notarzt und Rettungsdienst vor Ort sind, der Tode noch auf dem Sofa liegt und die Ehefrau samt Kindern vollkommen aufgelöst im Raum stehen und nicht wissen, wohin mit sich. In dieser chaotischen Situation wird von mir erwartet, dass ich ruhig und besonnen agiere, Souveränität ausstrahle und vor allem den Angehörigen Sicherheit gebe und Trost spende – nicht immer einfach!

Ich denke, diese beiden Beispiele beschreiben sehr gut, in welchem Spannungsfeld sich mein Arbeitsalltag bewegt. Und mal ehrlich: In diesem Spannungsfeld spielt sich doch Leben überhaupt ab und davon möchte ich hier berichten.

Dein Johannes
Donnerstag, der 30. Juli 2020